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Ein Loblied auf kostenlose Umarmungen

Seit mich vor zwei Jahren ein Freund zu meiner ersten Free-Hugs-Aktion (free hugs = engl. kostenlose Umarmungen) „genötigt“* hat, bin ich sehr begeistert von dem Konzept. Ich habe bisher wohl schon so um die 5000 Leute umarmt (ich zähle nicht mit).

Ich will hier mal versuchen, eine Liste von guten Gründen für Free Hugs zu sammeln:

  • Free Hugs Aktionen stiften gute Laune. Bei den Leuten, die die Idee doof finden und sich darüber lustig machen; bei den Leuten, die sich umarmen lassen, weil sie es toll finden oder sich freuen, dass sie eine Grenze überwunden haben und eine Geschichte zu erzählen haben werden und auch bei mir – ich bekomme jedes Mal ja auch eine Umarmung und habe ein kleines Erfolgserlebnis.
  • Meine Umarmungen werden besser – auch Umarmungen lassen sich üben. Inzwischen umarme ich viel persönlicher, näher, intensiver und aufmerksamer. Einiges davon kann ich auch in meinen Freundeskreis mit nehmen (wobei es unterschiedlich ist, „privat“ zu umarmen oder bei einer Aktion – alleine schon, weil ich privat nicht allen Menschen so offen begegnen will wie bei Aktionen – mit anderen hingegen funktionieren privat sogar Umarmungen, die Minuten dauern können).
  • Eine Umarmung ist weniger intim als viele andere Formen der Berührung aber trotzdem noch intim genug, um tatsächlich eine Verbindung zwischen Menschen aufzubauen. Ich habe die Möglichkeit, durch diese Berührung Kontakt zu Menschen aufzunehmen, die sonst anonym für mich gewesen wären. Ich leide ein bisschen unter der Anonymität und Ignoranz der Großstadt Berlin und schaffe so für mich und ein paar andere eine Insel.
  • Eine Umarmung kann Ausgangspunkt oder Thema einer kurzen Unterhaltung, einer kurzen Teilhabe am jeweils anderen Leben sein und Möglichkeit, Freude oder Leid zu teilen. Eine ältere Dame hat mir mal in der Umarmung gesagt, dass ihr Mann vor ein paar Tagen gestorben ist und sie die Umarmung gerade sehr nötig hatte. Ich kann Menschen ein kleines bisschen Trost spenden, von denen ich sonst nie gewusst hätte, dass sie Trost brauchen.
  • Umarmungen sind sprachneutral. Ich habe schon Leute aus vielen Erdteilen umarmt, die als Gast in Berlin waren oder hier leben. Eine Schulklasse aus Italien, Vater und Sohn aus den Niederlanden, einen Erasmusstudenten aus Uruguay, eine asiatische Mädchengruppe…
  • Kostenlose Umarmungen zu verteilen lehrt mich, toleranter, freundlicher und offener zu sein. Ich will die Menschen umarmen, die eine Umarmung annehmen wollen. Das heißt für mich zu akzeptieren, wenn jemand keine Umarmung haben will, heißt aber auch Leute zu umarmen, die ich aus irgendwelchen Gründen nicht attraktiv oder sympathisch finde. Ich will die Person umarmen, weil sie eine Umarmung annehmen will, ohne weiter Bedingungen zu stellen. (Gesundheitliche Bedenken wären aber ein Ausschlusskriterium).
  • Umarmungen sind Berührungen und wir alle haben das Bedürfnis, berührt zu werden. Nicht alle Menschen bekommen genug Berührungen und vielleicht kann ich manchen von denen eine Freude machen. Und auch ich freue mich über Berührungen und die Aufmerksamkeit, die damit einhergeht. Jede verteilte Umarmung bedeutet auch eine bekommene Umarmung für mich.
  • Free Hugs bringt mich an die frische Luft – ich sitze viel drinnen, viel am Computer und viel alleine. Ich finde es aber viel schöner, draußen in Bewegung zu sein und mit Menschen zu interagieren.
  • Free Hugs schärft meine non-verbale Kommunikation. Ich will nicht jeder Person aufs neue erklären, was ich mache. Ich habe ein Schild „kostenlose Umarmungen / free hugs“ und ich habe meine Körpersprache und Mimik. Manchmal reicht das Schild, um zu transportieren, was ich vorhabe, manchmal reicht ein Blick oder eine kleine Bewegung. Ich werde immer besser darin, einen direkten Draht mit den Leuten aufzunehmen – du kannst das „flirten“ nennen, wenn du willst.
  • Free Hugs kostet kaum was und macht dabei große Freude. Außer den Schildern (Karton) und Stiften habe ich keine Kosten. Am Anfang habe ich die Schilder noch aus Karton gemacht, der sonst weg geworfen würde – ich versuche mich selbst aber so ernst zu nehmen, Wert auf mein Auftreten zu legen und gebe doch lieber ein paar Cent für schönere Schilder aus. Ich will nicht den Eindruck vermitteln, dass ich Langeweile habe und das halt jetzt mal eben mache, sondern ich will zeigen, dass ich überzeugt von der Idee bin und Menschen Gutes tun will.
  • Free Hugs sind nachhaltig. Ich kann mir schöne Erlebnisse von früheren Aktionen ins Gedächtnis rufen und mich von der damaligen Freude anstecken lassen und ich treffe hin und wieder Leute, die ich schon umarmt habe.
  • Ich habe immer was interessantes zu erzählen und gerade auf Partys ist das ein schöner Einstieg für einen offeneren Kontakt. Ein paar Anekdoten, eine kostenlose Umarmung und schon gelangen wir zu viel schöneren Themen als zuvor.
  • Durch Free Hugs kann ich an meiner Schüchternheit und Introvertiertheit arbeiten (ja, eigentlich bin ich schüchtern – auch wenn mich immer seltener Leute so erleben – ich selbst auch immer seltener – das mag daran liegen, dass sich schon viel verändert hat).
  • Free Hugs führen zu unvorhersehbaren Situationen. Mithugger_innen und ich wurden schon mindestens drei, vier Mal gefilmt. Ich habe einen Bekannten aus meiner Schule in Bayern zufällig in Berlin getroffen, mir wurde beigebracht, wie ich Katzen-Hühner zeichne (das Mädchen hat mir auch beigebracht, so zu umarmen, wie ich jetzt umarme) und hin und wieder bekomme ich schicke Postkarten von Christ_innen zugesteckt (öhm, danke auch…).
  • Free Hugs lässt mich üben, ein guter Geber zu sein. Ich möchte, dass die Umarmung in erster Linie für die bekommende Person ein schönes Ereignis wird – ich bekomme in jedem Fall die Freude mit und einige der Umarmungen werden auch toll für mich sein – aber jede einzelne Umarmung soll für die Person, die sie bekommt, großartig sein. Inzwischen habe ich meine Technik geändert – früher habe ich versucht, auf die Umarmung der bekommenden Person einzugehen, sie zu spiegeln und nach zu machen – jetzt versuche ich, jede Umarmung von mir auch zu einer tollen Umarmung zu machen. Vermutlich gibt es viele Leute, die bisher noch nie eine wirklich nahe, aufrichte Umarmung bekommen haben – es wird Zeit dafür…
    …weitere Gründe werden folgen.

Ich verteile Free Hugs aber vor allem, weil ich keine** Gründe finde, es nicht zu machen und ich merke, dass ich damit große Freude schaffen kann – für mich und andere. Wenn es gute Gründe dafür aber keine dagegen gibt – dann muss ich das doch eigentlich machen, oder?
Kostenlose Umarmungen für die Welt 🙂

* = „genötigt“ heißt dabei: Ich hatte die üblichen Bedenken, die ich jetzt oft von Leuten höre, wieso sie die Idee zwar lustig finden, aber selbst nicht mitmachen wollen. Er hat sich aber einfach nicht aus dem Konzept bringen lassen und nach etwa 10, 15 Umarmungen war ich mit eigenem Antrieb voll dabei und hatte an dem Tag den vermutlich größten Glücksschub meines bisherigen Lebens.

** = Um ehrlich zu sein: Es gibt negative Gründe: Es tut weh, wenn Mädchen so hochnäsig sind, zu sagen: „für 5 Euro darfste mich umarmen“ oder Jungs/Männer abfällig sagen: „Ich bin doch nicht schwul“ (da fühle ich mich direkt mehrfach missverstanden) und ich kann mir vorstellen, dass Frauen die Gefahr laufen könnten, betatscht zu werden (ist bei mir bisher nur ein, zwei Mal passiert). Das gute ist: Umarmungen können auch trösten und dann sind halt die nächsten fünf Umarmungen auch für mich da…

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