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In Trauer um mich

Ich bin seit ein paar Wochen in Trauer um mich. Ich habe nämlich Selbstmord begangen. Das ist schon ein paar Jahre her, aber erst jetzt begreife ich wirklich, was da passiert ist.
Offensichtlich lebe ich noch – das liegt daran, dass es „nur“ ein theoretisch-gedanklichen Selbstmord, statt einem physischen war. Einer von der Art, der einen tiefen Einschnitt in dein Leben macht, dich aber trotzdem weiter leben lässt.

Ich will über meinen gedanklichen Selbstmord aus zwei Gründen schreiben:
– um an meine Trauer darüber heran zu kommen und dadurch mit dem Kapitel abschließen zu können
– weil ich vermute, dass es in meinem Umfeld ein paar Leute gibt, denen es ähnlich geht

Wie kam es zu meinem Selbstmord?

Irgendwann mit 14 habe ich die Gelegenheit bekommen mich intensiv mit meinem Glaube, danach mit meiner Ernährungsweise und in dem Zusammenhang auch mit meiner persönlichen Ethik zu beschäftigen.

In der Zeit bin ich vom Vegetarismus (ich bin Vegetarier, seit ich neun bin) zum Veganismus „konvertiert“. Auf dem Weg dort hin, habe ich mich für sehr viel Leid geöffnet, dass auf der Welt passiert. Leid, dass Tieren angetan wird, aber auch Menschen, der Umwelt und dem Leben an sich.

Es muss wohl irgendwann im Verlauf dieses Prozesses gewesen sein, dass ich meinen Fokus auf das Leid in der Welt gerichtet habe.
Da passieren so dermaßen grausame Dinge auf der Welt – es ist überhaupt nicht aushaltbar eine nur annähernd realistische Vorstellung davon zu bekommen. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute werden Tiere bestialisch gequält – überall auf der Welt – und das ist nur ein Fragment von dem Schmerz und dem Leid, der/das angerichtet wird.

Es sollte kein Leid auf der Welt geben

Im Rahmen meiner Nachforschungen habe ich mehr und mehr verstanden, dass ich Anteil daran habe, dass es Leid gibt. Durch meinen Konsum finanziere, ermögliche und rechtfertige ich Dinge, die anderen Leid verursachen können.

Ich habe Mitschuld an dem Leid

Ich will gut sein – ich will niemandem etwas zu Leide tun. Also sollte ich Wege finden, mich aus dem Mechanismus raus zu ziehen – nicht mehr mitschuldig sein.

Ich will keine Mitschuld daran haben

Wie ich aber verstanden habe, gibt es zwar Möglichkeiten das durch mich verursachte Leid zu reduzieren – z. B. vegan zu leben und damit zumindest nicht dafür verantwortlich sein, dass Tiere für meine Ernährung sterben müssen – aber mein bloßes Leben führt schon dazu, dass Leid verursacht wird.

Ich kann mich meiner Mitschuld nicht entziehen – solange ich lebe

Die logische Konsequenz ist, die Quelle des Problems zu beseitigen – sprich: Selbstmord zu begehen.
Das ist die einzige und alternativlose Folgerung aus meinen Überlegungen.

Folgen keines Selbstmordes

Obwohl es für mich theoretisch als alternativlos feststand, dass es in meiner Verantwortung steht, mich selbst zu töten – und obwohl ich schon angefangen hatte einen Kriterienkatalog zusammen zu stellen, um eine vertretbare Methode zu finden – habe ich mich praktisch dagegen entschieden.

Wenn ich mir die Jahre, die seit dem vergangen sind, ansehe, sehe ich, dass die Entscheidung tiefgreifend war.

Durch die Überlegung, dass ich mich selbst umbringen sollte, habe ich mir im Prinzip selbst die Existenzberechtigung entzogen.
Viele meiner Lebensentscheidungen wirken auf mich wie der versucht so wenig wie nötig zu existieren. Ich habe mich durch viele Entscheidungen sehr klein gemacht und mir nur sehr wenig Raum gelassen.

Es ist schwer dafür Beispiele zu nennen, die von anderen Leuten nachvollzogen werden können, aber wenn ich meine Gedanken schweifen lasse, fallen mir einige Situationen ein, in denen ich überfordert war einen Kompromiss zu finden zwischen dem, was ich für vertretbar gehalten habe, und dem, was nötig ist um leben zu können.

Ein Beispiel, das mir noch recht gut in Erinnerung ist:
Ich stehe mit Äpfeln, Brot und Aufstrich in einem großen, randvollen Bio-Supermarkt und weiß nicht recht, was ich sonst noch kaufen könnte.
Es soll vegan, bio, fair trade, regional, saisonal, möglichst unverpackt sein und eigentlich auch abwechslungsreich sein…
…das selbe habe ich bei den letzten Einkäufen auch schon gekauft. Drei „erlaubte“ Produkte von vermutlich um die 1000 möglichen in dem Laden.

Das war wohl mein „Tiefpunkt“ beim Versuch meine Ernährung ethisch zu optimieren. In einigen anderen Lebensbereichen habe ich auch solche Tiefpunkt erreicht (z. B. einen kleinen Burnout) die mir gezeigt haben:
Krachbumm – Das war zu wenig, um es Leben zu nennen. Ich muss mir mehr Spielraum erlauben.

Die Selbstmord-Ideologie zu Grabe tragen

Weil ich gerne Begriffe habe, nenne ich die Sichtweise, die ich bisher auf meine Leben hatte „Selbstmord-Ideologie“.

Ich merke, dass diese Ideologie inzwischen ausgedient hat und ich seit einigen Monaten an einer neuen Sichtweise auf mein Leben arbeite.
Gerade passiert bei mir ein Paradigmenwechsel hin zu ganz anderen Grundideen, über die ich demnächst schreiben will.

Ich will die Schwere und Enge der Selbstmord-Ideologie, gegen die Weite und Leichtigkeit der neuen Sichtweise eintauschen und merke, wie befreiend sich das für mich anfühlt.

Diesmal soll also die Selbstmord-Ideologie sterben – damit ich wieder anfangen kann frei zu leben.

Dankbarkeit für die Selbstmord-Ideologie (Ein Quasi-Nachtrag)

Nachdem ich mir der Selbstmord-Ideologie wieder bewusst geworden bin, war ich sehr traurig und wütend – auf die Tatsache an sich, auch mich selbst, dass ich diese Überlegungen hatte und die Entscheidung getroffen habe so zu leben. Ich habe anfangen die letzten Jahre sehr düster zu sehen und viele Entscheidungen in Frage zu stellen.

Im Grunde ist das immer noch so – allerdings habe ich einen sehr hilfreichen Gedanken an die Hand bekommen, der mich auch Dankbarkeit dafür empfinden lässt.
Als ich in meiner Männergruppe darüber gesprochen habe, hat mir ein Mann geantwortet, dass er vermutet, dass die Ideologie, zu der Zeit, als ich sie angenommen habe, die Lösung für etwas war.
Und noch stärker: „Sie hat dich gerettet.“
Die Tränen, die mir kamen, als ich das gehört habe, sind für mich Beweis genug, dass da eine große Wahrheit drinnen steckt. (Dazu vermutlich demnächst mehr.)

Auch, wenn ich der Ideologie jetzt nur noch wenig abgewinnen kann und traurig darüber bin, mich so viele Jahre „eingesperrt“ zu haben, will ich ihr dankbar sein für die Zeit, in der sie mir gedient hat.
Jetzt hat sie allerdings ausgedient und darf einer neuen Gedankenwelt den Platz überlassen.

Frei nach Buzz Lightyear: „Bis zur Unendlichkeit und noch viel, viel weiter!“

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