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Die Freuden der Tränen

Ein tolles Geschenk

Ich möchte dir von einem tollen Geschenk erzählen, dass ich um meinen 21. Geburtstag herum bekommen habe. Dieses tolle Geschenk habe ich von meiner damaligen Freundin bekommen. Es ist ein Geschenk, dass man so nicht kaufen kann. Es ist ein Geschenk, dass nicht einmal nach einem Geschenk aussieht und das man auch nicht anfassen kann.
Sie hat mir (wenn auch nicht beabsichtigt) geholfen, zu weinen und war (absichtlich) einfach da – hat mich weinen lassen, eine ganze Stunde lang.

An dem Abend habe ich das erste Mal seit bestimmt drei Jahren geweint, vielleicht sogar seit noch länger.
Da ich nicht besonders in Übung war, waren es nur Tränchen, zeitweise auch nur feuchte Augen.
Erst habe ich darüber geweint, weil ich mich durch etwas verletzt gefühlt habe, was sie gesagt hat oder vielleicht auch, weil das Gespräch uns so weit auseinander geführt hat. Dann, als ich gemerkt habe, dass ich gerade weinen kann, bin ich im Geiste durch mein Leben gewandert auf der Suche nach anderen Erlebnissen, die Tränen verdient haben – der Tod meiner Oma, das Mobbing in der Schulzeit, früherer Liebeskummer, Enttäuschung und Unsicherheiten.
Sie war eine ganze Stunde einfach nur für mich da, hat mir Körperwärme geschenkt und einen sicheren Rahmen.
Ein wunderbares Geschenk.

Falsches Verständnis von Weinen

Du kennst sicher Sprüche wie: „du brauchst doch nicht weinen“ oder: „wein doch nicht, ist doch nicht schlimm“.
Mich machen solche Sprüche sehr traurig und ich ertappe mich regelmäßig dabei, für mich zu denken: „Doch, doch, doch! Wein ruhig, wein so viel du willst!“ – teilweise spreche ich es auch schon aus, das wird vermutlich weiter zunehmen…

Wieso solche Sprüche? Weinen tut doch nicht weh, Weinen ist nicht das Problem – wieso also nicht weinen?
Viel mehr noch: Wieso lässt du mich nicht einfach weinen?

Weinen ist eine Möglichkeit, mit dem Problem um zu gehen; es ist befreiend, es ist eine Ausdrucksform, es reinigt und gibt Energie frei, die zu viel ist – etwas wunderbar tolles.
Weinen ist eine Bewältigungsstrategie, es hilft dir, dich mit dir zu verbinden und da zu sein. Deine Trauer, Verzweiflung, Unsicherheit oder Überforderung bricht sich Bahnen und kann deinen Körper verlassen.
Nicht zu weinen – sei es aus Scham, Unsicherheit oder Stolz – obwohl es gerade nötig ist, heißt, es in dir zu behalten und damit ist niemandem geholfen.

Weinen ist etwas tolles. Es heißt, dass du mit dir in Verbindung stehst, dass du deine Gefühle lebst und dass dir deine Gefühle und du dir selbst wichtig genug bist, sie anderen offen zu zeigen: „Ey, mir geht es gerade nicht gut – siehst du, ich weine – es ist gerade zu viel für mich.“ Das ist toll, das ist authentisch, das ist ehrlich, das verbindet.

So wie es gemein wäre, Leuten zu sagen, dass sie nicht lächeln oder lachen sollen/brauchen/dürfen, ist es gemein, Leuten das Weinen zu vermiesen. Gefühle dürfen/sollen/müssen Ausdrucksmöglichkeiten haben.

Schaffe einen geborgenen Raum für andere um zu weinen

Weinen ist nicht das Problem – es ist ein erster Schritt der Lösung. Die Wellen der Gefühle raus lassen, ruhig werden und dann gucken, wie die Welt nach dem Regen aussieht.

Es gibt selten Gründe, Menschen davon ab zu halten zu weinen – statt dessen wäre es schön, Unterstützung zu leisten.
Wenn du einer Person helfen willst, die weint:
Reich ihr ein Taschentuch, um geflossene Tränen trocken zu können.
Biete der Person an, Berührungen und Körperwärme zu teilen – durch eine Umarmung, eine Berührung am Arm o. ä. – ein klares, physisches: „Ich sehe dich, ich bin da für dich, du kannst auf mich zählen, ich lass dich nicht alleine.“ und auch: „Du darfst das.“.
Schaffe einen geschützten Rahmen für die Person, indem du andere Menschen beschäftigt hältst oder die weinende Person wo anders hin bringt.
Sei offen für Wünsche – vielleicht was zu Trinken, vielleicht Musik, vielleicht ein bisschen Streicheln.
Falls die Person geschminkt ist/war – hilf ihr danach, das wieder in Ordnung zu bringen.
Bei allem: Zeig der Person, dass es voll ok und erlaubt ist zu weinen, dass sie bei dir sicher ist und sich geborgen fühlen darf.

Wenn es dir darum geht, dass es der Person besser geht – dann lass sie weinen – und sobald sie damit fertig ist, versucht zusammen eine langfristige Lösung zu finden – erst danach, erst wenn die Tränen aufgehört haben zu fließen.

Weinen ist ein Geschenk

Wenn du dir und anderen Menschen erlaubst zu weinen, wird es einfacher werden. Solang du dich selbst damit unwohl fühlst, Emotionen der Trauer, der Verzweiflung, der Schwäche, der Überforderung zu zu lassen, wirst du auch versuchen, sie anderen nicht zu erlauben. Aber das ist so unglaublich schade.

Ich habe da noch einiges an Übungsbedarf. Die Tränen kommen noch viel zu zögerlich und meine Unsicherheit lässt sie mich noch zu oft zurückhalten. Jedes Mal, wenn trotzdem Tränen kommen, ist es ein kleines Fest für mich.

Weinen ist ein Geschenk – schätze es wert und gönne es dir und anderen Menschen.

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