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Experimentskizze: authentische Zweisamkeit

Nachdem ich mich als Forscher verstehe und mein Forschungsobjekt langsam vom „Ich“ (Einzelperson) auf das „kleine Wir“ (zwischenmenschlicher Kontakt zwischen zwei Menschen) verschiebe, ist es mal andere Zeit neue Experimente zu finden.

Im folgenden will ich eine Skizze für eine Experiment vorstellen, dass ich gleichzeitig sehr sehr spannend und reichhaltig aber auch ziemlich beängstigend finde.

Das Experiment

Zwei Menschen verpflichten sich z. B. auf die Dauer von drei Monate eine radikal ehrliche und radikal authentische zwischenmenschliche Beziehung ein zu gehen. Egal wie die beiden miteinander harmonieren ist ein vereinbartes Minimalkontingent an Zeit miteinander zu verbringen um die Funktionsweisen des Miteinanders zu entschlüsseln.

Nebenbedingungen und Vorschläge

Es könnte z. B. abgemacht werden, dass jede Woche mindestens vier Stunden miteinander verbracht werden – das wären dann insgesamt 48 Stunden.

Die Zeit muss in echter physischer Präsenz passieren – also nicht digital via Telefon, Internettelefonie o. ä.

Am spannendsten ist es wohl, wenn sich die Menschen noch nicht oder kaum kennen, um nicht schon vorgeprägt zu sein.
…und um noch mehr Nervenkitzel mit rein zu bringen 😉

Erläuterungen zum Experiment

So, wie ich die Kultur kenne, in der ich lebe, ist sie von Grund auf verlogen. Das äußert sich im Kleinen und im ganz Großen.
Wir sind daran gewohnt nicht die Wahrheit, sondern etwas politisch vertretbares zu hören.

Das äußert sich auch daran, wie die meisten Menschen – zumindest ich – mit ihren Mitmenschen umgehen.
Oft ist es mir wichtiger die Verbindung zu stärken als wirklich ehrlich zu sein und gegebenenfalls sogar nochmal in mir nach zu forschen, was eine authentische Antwort oder ein authentischer Wunsch ist.
Die Antworten auf ein „Wie schmeckt dir das?“ oder ein schnell gefragtes „Wie geht es dir?“ kommen meist zu schnell um wirklich ehrlich zu sein.

Schon als Kinder lernen wir unsere Meinung an zu passen und uns zu verstellen um zu gefallen oder nicht auf zu fallen.
Wenn Kinder über Witze lachen, die sie gar nicht verstanden haben können oder wenn ihnen beigebracht wird reflexartig „Danke“ zu sagen, auch wenn sie sich kein bisschen über ein Geschenk freuen, dann ist das unehrlich – nicht authentisch.

Bei der Vorstellung eine wirkliche authentische, ehrliche zwischenmenschliche Beziehung zu führen, kribbelt bei mir der Forschergeist und lässt spannendes vermuten.
Statt das festigen und bekräftigen der Beziehung wird Authentizität als oberste Priorität begriffen und ändert damit fundamental die Spielregeln.

Wie wäre es, wenn sich keine der beiden verbiegen würde, wenn sich niemand anpasst und Gedanken, die gerade ins Bewusstsein kommen ausgesprochen, statt auf Tauglichkeit geprüft zu werden.

Kein „ich weiß nicht“ – das eigentlich ein „ich traue mich nicht ’nein‘ zu sagen“ ist.
Kein Gedanke, der heruntergeschluckt wird, weil er – einmal ausgesprochen – zu einer Ablehnung oder zu einem Konflikt führen würde.
Und auch keine Möglichkeit durch Schweigen oder Vermeiden etwas ungeklärt zu lassen.

Statt dessen immer Klarheit.

Klarheit, die vielleicht verletzt, die klein macht und die zurückweist.
Aber auch Klarheit, die Spielchen unnötig macht und Potential auf „Knopfdruck“ frei schaltet.
Es reicht einen Wunsch oder eine Idee aus zu sprechen und auf die Resonanz zu warten.

„Ich habe Lust dich zu streicheln“ – „Ja, bitte“.
„Ich finde den Film langweilig“ – „Ich eigentlich auch, lass uns was anders machen“.

Das Experiment zeitlich fest zu legen ist wichtig, um auch bei fehlender Sympathie Erkenntnisse zu gewinnen.
Wie komme ich z. B. mit einer Person zurecht, die ich nicht sympathisch finde, aber trotzdem regelmäßig sehen muss. Welche Werkzeuge lassen sich finden um die Zeit trotzdem erträglich zu machen.

Das kann auch spannend sein, um Werte und Einstellungen ausfindig zu machen, die dazu führen, dass die andere Person als so unsympathisch empfunden wird und durch den Zwang werden evtl. Gespräche motiviert die eine Annäherung ermöglichen.
„Was genau stört dich an mir? Wieso stört dich das so sehr?“

Werkzeuge, die ich spannend finde und ausprobiert werden könnten

Grenzen aktiv setzen

Eine Bekannte hat mir von ihrer Beziehung mit einem Afrikaner (ich weiß das Land leider nicht mehr – Afrika ist ein riesiger Kontinent mit hunderten oder tausenden Kulturen) erzählt.

Also sie ihn in seiner Heimat besucht hat, war der Kontakt mit seiner Mutter sehr schockierend für sie.

„Du musst unsere Sprache lernen, du musst kochen lernen, du musst Kinder mit ihm bekommen!“ – „wow, wow, wow – mal langsam“.

Sie hat sich von der Kommunikation seiner Mutter überrollt gefühlt und musste sich von ihm erst mal kulturelle Nachhilfe geben lassen.
Bei uns würde es etwas so klingen:
„Ich würde mich sehr freuen, wenn du unsere Sprache lernen würdest. Es wäre auch toll, wenn du kochen lernen würdest und ich würde mich freuen, wenn ihr Kinder bekommen würdest – wenn du willst.“

In unserem Kulturraum wird es als höflich empfunden, der anderen Person den eigenen Willen nicht auf zu drängen und möglichst einfache Möglichkeiten zu geben „nein“ zu sagen (also Gegenleistung wird nicht „nein“ gesagt sondern „ich weiß nicht“ oder es werden andere Vermeidungsstrategien verwendet).
In seiner Kultur ist es üblich klar zu formulieren, was man sich wünscht und die andere Person antwortet darauf sehr klar, ob sie es auch will oder eben nicht. Dabei wird niemand in seiner/ihrer Ehre verletzt und statt dessen gibt es Klarheit.

Als er sie besucht hat, wollte sie einkaufen gehen. Ihre Frage: „Willst du mit kommen“ war für ihn ein „Wenn es unbedingt nötig ist, kannst du mit kommen“ und hat ihn verunsichert. Ein „Ich gehe einkaufen und wünsche mir, dass du mitkommst“ wäre hingegen eine klare Aussage und Aufforderung – er kann einwilligen oder ablehnen.

Wenn ich davon ausgehen kann, dass die andere Person mir ihre Grenzen klar formulieren kann und es auch tut, dann befreit mich dass davor für die andere Person mit zu denken.
Das erleichtert auch sonstigen Kontakt – z. B. körperliche Annäherungen. Wenn ein artikuliertes „Nein“ ein empfundenes „Nein“ ist und ein empfundenes „Nein“ auch als „Nein“ artikuliert wird, dann bin ich frei das zu geben, was ich gerne geben würde und brauche dann nur noch die Grenzen, die mir aufgezeigt werden, zu wahren statt – ohne klare Kommunikation – zu hoffen, dass alles passt.

verbaler Notaus

Wenn du schon mal mit gefährlichen Maschinen gearbeitet hast (Standbohrmaschine, Kreissäge o. ä.) wird dir der „Notaus“-Schalter bekannt sein. Das ist ein Knopf, der gedrückt oder geschlagen werden kann und sofort jegliche Stromzufuhr der Maschine unterbricht. Damit kommt die Maschine zum Stillstand und, statt der Hand, sind vielleicht nur zwei Finger weg.

In der Sado-Maso-Szene gibt es sogenannte „Safe Words“ die als Notaus fungieren. Da dort Schmerzen durchaus erwünscht sind – aber nur bis zu einem gewissen Grad – reichen normale Reaktionen wie Schreien und sich Winden nicht aus, um zum Abbruch zu führen. Weit verbreitet ist der Ausruf „Mayday“, der dem/der Spielpartner_in klar macht, dass gerade was schief läuft, zu sehr weh tut oder so nicht mehr dem vereinbarten Konsens entspricht.

Es wäre spannend so einen verbalen Notknopf auch sonst zu haben.
Wenn ein Streit gerade unfair wird und die andere Person willentlich oder ohne es zu wissen einen Stachel in dein Herz bohrt (ein längst bei Seite gelegter Konflikt wird wieder ausgegraben, von dem die andere Person wissen muss, dass er dich tief verletzt hat; eine verletzend-dominante Position wird eingenommen; es geht nur noch darum sich menschlich kaputt zu machen und nicht mehr darum eine Lösung zu finden) aber auch wenn auf eine andere Weise deine Grundbedürfnisse und/oder deine Lebensgrundlage gefährdet ist, leitet das Safe-Word einen unbedingt zu befolgenden Befehl ein.

Praktisch wäre das auch, wenn jemand z. B. gerade nicht checkt, dass er_sie auf die Straße gegangen ist, obwohl ein Auto mit Vollgas heranbraust. „MAYDAY, komm von der Straße“. Oder – was im echten Leben seltener vorkommt, in Serien aber hin und wieder – dass sich jemand ducken muss, weil er_sie sonst erschossen wird.

Der Notaus sollte nur in Extrem-Situationen verwendet werden und beide sollten darauf so sensibilisiert sein, dass damit das eigene Hinterfragen „deaktiviert“ ist.
Erst befolgen, danach erst in Frage stellen.

Evtl. sind noch ein paar andere Worte praktisch, die angeben, dass es gerade kritisch wird.
„JuneNight“ gibt an, dass gerade etwas aus dem Ruder läuft und gibt der anderen Person die Möglichkeit kurz zu reflektieren, was da gerade passiert – ohne die Situation ab zu brechen.

Checklisten

Es werden gemeinsame Checklisten erstellt mit zwischenmenschlichen Dingen, die beiden Personen wichtig sind, die von Zeit zu Zeit durchgegangen, erweitert und korrigiert werden können.

Was wollen, können und was wollen wir nicht miteinander leben/vereinbaren etc.

Vor einer Weile habe ich „Yes/No/Maybe“-Listen gefunden, die sich allerdings auf sexuelle Kontakte beschränken.
Wie will ich am Mund, Penis, Fuß berührt werden. Will ich oralen, analen, vaginal Geschlechtsverkehr aktiv/passiv erleben. Wie sieht es mit Schmerzen aus?

Parallel dazu könnten auch zu anderen Qualitäten Checklisten erstellt werden um hin und wieder ein umfassenderes Bild zu bekommen wie das Miteinander gerade empfunden wird und neu eröffnete Potentiale zu erkennen.

Sprachcheck

Ich war vor einiger Zeit bei einem Treffen der „Toastmaster“. Das ist ein weltweiter Verein, der seinen Mitglieder ermöglichen will, gute Vortragende zu werden.
Dort werden Reden zu bekannten oder kurze Statements zu zugerufenen Themen gegeben. Die Idee ist es, souveräne, kompetente und hilfreiche Reden halten zu können und den eigenen Auftritt zu stärken.

Dort gibt es einen wichtigen Job – den/die „Ähm“-Zähler_in. Die Person hat eine gnadenlose Klingel, die jedes Füllwort, jede Wiederholung und jedes „Ähm“ markiert.

Ich kenne in meiner Ausdrucksweise einige Worte, die Verschleierungen sind. „Weiß nicht“ und „keine Ahnung“ sind sehr leicht zu erkennen. Daneben sind Nuscheln und leise Sprechen Werkzeuge um Unklarheit zu stiften.

Solche Sprachmittel und andere Ausflüchte wie Rummstammeln und unnötig aufwändiges oder Hinten-rummes Formulieren könnte verbal „beklingelt“ werden.

„Du verschleierst – sags im Klartext“

Konsequenzen/Strafen

Um, bei fehlender positiver Motivation zum ehrlichen und authentischen Kontakt, das Experiment weiter verfolgen zu können müsste es evtl. negativ motivierende Anreize geben.
Im Optimalfall ist das nicht nötig, weil durch ein ehrliches Gespräch heraus gefunden werden kann, wo das Problem liegt und an die Ursache gegangen werden kann. Dafür ist aber eben Ehrlichkeit nötig und wenn die versagt wird, kann das Experiment daran scheitern .

Werde Experiment-Teilnehmerin?

Hört sich das für dich spannend an?
Hast du Lust theoretisch oder sogar praktisch daran weiter zu denken und zu forschen?

Ich habe Lust die klassischen „Werkzeuge“ von zwischenmenschlichen Beziehungen theoretisch in Frage zu stellen und zu gucken, was sich daran optimieren lässt.
Ich fände es aber besonders spannend Experimentteilnehmer 1 zu sein und mit einer Experimentteilnehmerin 2 in der Praxis Erkenntnisse zu erhalten.

Melde dich, falls du die Idee zumindest spannend findest – ob und wie genau das wirklich realisiert werden kann, sollten wir dann gemeinsam heraus finden.

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